Fichte - die Botschafterin der Achtsamkeit

›Die Fichte sticht, die Tanne nicht.‹ Dieser weit verbreitete Satz über die etwas spitzen Fichtennadeln gab mir den Impuls, das Wesen der Fichte einmal näher zu betrachten.


 

Denn die Fichte ist mir und meiner Familie vor einigen Jahren ganz besonders ins Bewusstsein gerückt; man könnte auch sagen ›gestolpert‹. So verabschiedete sich in unserem Garten eine über 50-jährige Fichte während eines mehrere Tage anhaltenden Unwetters. Sie lehnte an einer nahestehenden Birke, entwurzelt und auf ihr Ende wartend.


 


Sie ist eigentlich in unserer Region, dem Heckengäu bei Stuttgart, kein heimischer Baum. Denn sie liebt die Berge und die kargen Höhen. Aufgrund des großen Holzbedarfs der letzten Jahrhunderte wurde sie wegen ihres schnellen Wachstums und ihrer geraden, aufrechten Haltung vermehrt angepflanzt. Leider fand sie sich in den neuen Regionen, welche oft aufgrund intensiver landwirtschaftlicher Nutzung aus verdichteten Böden bestehen, nur schwer zurecht.


Das Resultat sind oft Kahlschläge, wie man sie z. B. im Schwarzwald sehen kann, oder auch durch den großen Nadelanteil übersäuerte Waldböden, die es anderen Pflanzen beinahe unmöglich machen zu gedeihen. Dabei ist sie eine königliche Erscheinung, wenn man ihr die Zeit und den rechten Platz gibt: 60 m hoch und 1,50 m Stammdurchmesser Umfang kann eine Fichte erreichen, eine wahre Königin der Berge. Das Holz der in den Bergen langsam gewachsenen Fichten diente Instrumentenherstellern, wie z. B. dem berühmten Geigenbauer Antonio Stradivari, als Klangholz für seine Musikinstrumente.
 


 

Fragt man Pflanzenkundige nach der Fichte, so kommt eine Vielzahl an Verwendungsmöglichkeiten zutage: Frische, junge Fichtentriebe liefern im Frühjahr einen hohen Gehalt an Vitamin C und lassen sich schmackhaft in Salaten oder Smoothies verarbeiten. Junge Triebe und die Rinde können äußerlich angewandt bei Gicht, Rheuma und auch bei Erkältungskrankheiten hilfreiche Dienste leisten. Ein Fichtennadelbad fördert die Durchblutung, lässt Muskelverspannungen schwinden und wirkt beruhigend auf Körper und Seele. Beliebt sind auch Salben aus Fichtennadeln: diese haben schon dem einen oder anderen bei Hautkrankheiten geholfen. Freunde des Räucherns schätzen das Harz der Fichte; dieses klärt den Geist, erweitert den Brustraum und das Herz.


 

Für mich ist sie, wie ihre verwandten Nadelträger Kiefer, Tanne und Lärche, ein Wesen, das durch ihr immergrünes Nadelkleid Vertrauen, sogar eine gewisse Sorglosigkeit, verkörpert. Die spitzen Nadeln gebieten Vorsicht und darum auch Achtsamkeit. Achtsamkeit in der Berührung, in der Wahrnehmung, auch Achtsamkeit mir selbst gegenüber.
›Achtsamkeit bedeutet, dem Augenblick bewusst Aufmerksamkeit zu schenken.‹ Dieser wunderbare Satz von Jon Kabat-Zinn trifft es genau. Und wer könnte es besser formulieren als ein Mann, der genau dies – nämlich die Aufmerksamkeit – zu seiner Berufung auserkoren hat.
 


 

Die Fichte lässt mich achtsam sein. Und sie macht mir immer wieder bewusst, dass sie eines von vielen Geschöpfen des Waldes ist, welches wächst, atmet und irgendwann einmal vergeht, um uns dann selbst noch nach ihrem Tode mit ihrem Holz als Möbelstück, Instrument oder als wärmende Quelle des Feuers zu bereichern.
 


 

Wenn Du das nächste Mal beim Spaziergang – vielleicht noch achtsamer als sonst – durch den Wald schreitest, genieße bewusst den harzigen, erdigen Geruch! Denn die ätherischen Öle, welche die Fichten und andere Nadelbäume verströmen, werden Dir Ruhe und Kraft schenken.